Selektive Schärfe: Das Wechselspiel von Schärfe und Unschärfe suggeriert räumliche Tiefe im zweidimensionalen Bild und lenkt den Blick auf das Wesentliche eines Motivs. Wir zeigen Dir, wie man dieses Stilmittel einsetzt und woran sich die Qualität der Unschärfe, das Bokeh, festmachen lässt.
Dieser Artikel stammt aus dem ColorFoto-Magazin 02-2018.
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Unter Schärfentiefe versteht man jenen Bereich entlang der optischen Achse, auf dem ein Motiv in seiner Tiefenausdehnung scharf abgebildet wird. Maximal scharf sind jedoch nur jene Motivpunkte, die nach präziser Fokussierung genau auf der Einstellebene liegen.
Jeder Gegenstandspunkt davor oder dahinter wird nicht punktförmig, sondern als kleines Scheibchen abgebildet. Man spricht von Unschärfe- oder Zerstreuungskreis.
Vom Auge als unscharf wahrgenommen werden Motivpartien, bei denen die sich überlagernden Zerstreuungskreise eine bestimmte Größe überschreiten. Der zulässige Grenzwert, bezogen auf die 100-Prozent-Darstellung am Monitor, ergibt sich durch die Pixelgröße in Mikrometer.
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Schärfentiefe erklärt
Schärfentiefe bezeichnet einen Bereich scheinbarer Schärfe bzw. tolerierbarer Unschärfe vor und hinter der Einstellebene.
Das erreichbare Maß an Schärfentiefe hängt von vier Faktoren ab:
- Arbeitsblende
- Aufnahmedistanz
- Bildwinkel des Objektivs
- und Aufnahmeformat
Für die Blende gilt: große Öffnung, wenig Schärfentiefe – kleine Öffnung, viel Schärfentiefe.
Vergrößerst Du den Abstand zum Motiv, wird dieses kleiner abgebildet, während die Schärfentiefe anwächst; verringerst Du die Aufnahmedistanz, nimmt auch die Schärfentiefe ab.
Bei gleichbleibender Aufnahmedistanz bringt ein kurzbrennweitiges Objektiv einen Zugewinn an Schärfentiefe im Vergleich zu einer längerbrennweitigen Optik.
Und schließlich spielt die Größe des Bildsensors eine Rolle: Je kleiner der Sensor, desto mehr Schärfentiefe ergibt sich, wenn Blende, Bildwinkel und Aufnahmedistanz gleich bleiben.
Schärfezonen
Blickführung durch Verlagern der Schärfe – ein Trick, den auch Filmer gerne verwenden:
Kommentar von Karl Stechl
Wie scharf muss ein Foto sein? Kommt darauf an. Bei einem Landschafts– oder Architekturmotiv ist durchgehende Schärfe vom Vorder- bis zum Hintergrund in der Regel ein Qualitätsmerkmal. Fotografierst Du aber ein Porträt vor einer Landschaft, willst Du nicht, dass Äste aus dem Kopf wachsen wie ein Hirschgeweih.
Besser: Der Hintergrund verschwindet in der Unschärfe, damit sich das Gesicht plastisch davon abhebt.
Was schließen wir daraus? Unschärfe ist gut, wenn sie der Bildgestaltung dient. Unerwünscht aber ist sie als Folge technischer Unzulänglichkeiten – vom Verwackeln der Aufnahme über mangelnde Fokussierung bis hin zu Objektiven mit bescheidenen Abbildungseigenschaften.
Brennweiten
Welche Brennweiten begünstigen das Gestalten mit selektiver Schärfe? Die meisten Fotografen werden darauf eine schnelle Antwort haben: Telebrennweiten natürlich, je länger, desto besser.
Die optischen Gesetzmäßigkeiten geben ihnen recht: Bei gegebener Blende, unverändertem Abstand zwischen Kamera und Motiv bzw. Motiv und Hintergrund erzeugt das Tele die geringste Schärfentiefe – eine gute Voraussetzung für das „Freistellen“ des Hauptmotivs.
Zum Beispiel bei Tierbildern: Mit 500-mm-Tele fotografiert, erscheint der Hintergrund nur noch als farbiges Aquarell ohne erkennbare Konturen. Nichts lenkt mehr vom Motiv ab.
Manchmal besteht die Gestaltungsabsicht aber gerade darin, dass Hintergrundkonturen schemenhaft erkennbar bleiben, damit der Betrachter inhaltliche Bezüge zum Hauptmotiv herstellen kann.
Bildbeispiel: Der rote Apfel vor der nächtlichen Stadtkulisse von Manhattan. In diesem Fall ist ein Normal- oder Weitwinkelobjektiv angesagt. Generell wird man damit näher an das Motiv heranrücken müssen, um den Hintergrund in der Unschärfe verschwimmen zu lassen.
Objektive mit Perspektivkorrektur schaffen weitere Möglichkeiten. So kann man die Tilt-Funktion, das Verschwenken des Objektivs, nicht nur dazu einsetzen, um die Schärfentiefe zu „dehnen“, sondern auch für die gegenläufige Aktion – das Reduzieren des Schärfebereichs.
Nicht zu vergessen – die Bildbearbeitung: Für das kreative Spiel mit der Unschärfe stellt Photoshop verschiedene Werkzeuge bereit, von der Feld- und Iris-Weichzeichnung, über Tilt-Effekte bis hin zur Optimierung des Bokehs.
Kommentar von Siegfried Layda
Spätestens bei der Aufnahme muss die Entscheidung fallen: Soll ich Vorder- und Hintergrund in die Bildkomposition einbeziehen – durch Abblenden, Entfernungseinstellung auf hyperfokale Distanz oder gar Focus-Stacking? Oder will ich bewusst mit Unschärfezonen gestalten, um den Blick des Betrachters auf das Wesentliche zu lenken?
Entscheidet man sich für eine Aufnahme mit durchgehender Schärfe, bleibt immer noch die Möglichkeit, später bei der Bildbearbeitung Bokeh-Effekte zu erzeugen. Umgekehrt geht es leider nicht.
Unschärfe und Bokeh
Wenn Unschärfe als Stilmittel dienen soll, muss die Gestaltungsabsicht erkennbar werden. Eine wichtige Stellschraube dafür ist die Arbeitsblende, denn: je größer die Blendenöffnung, desto diffuser und größer werden Unschärfekreise dargestellt.
Unscharfe Bildregionen wirken somit weich und fließend, fokussierte Motivpartien heben sich optimal davon ab. Folglich gelten lichtstarke Objektive mit hoher Anfangsöffnung als Garanten für „schöne Unschärfe“.
Während man mit der Blende aber nur die Schärfentiefe variiert, ist die Qualität der Unschärfe eine Objektiveigenschaft. Dafür hat sich der aus dem Japanischen entliehende Begriff „Bokeh“ eingebürgert.
Was beim Bokeh-Vergleich diverser Objektive am schnellsten auffällt, ist die Form der Irisblende: Je nach Anzahl und Form der Blendenlamellen erscheinen Unschärfekreise nicht rund, sondern als Vieleck. Häufig zu beobachten ist auch, dass Unschärfekreise in den Bildrandbereichen als „Katzenauge“ abgebildet werden. Beides ist akzeptabel, wenn das Bokeh insgesamt harmonisch wirkt. Was Bokeh-Fans gar nicht gerne sehen, sind Doppelkonturen, hell abgesetzte Ränder oder Struktur-Artefakte wie „Zwiebelringe“ in den Unschärfekreisen.
Der Ruf nach Objektiven, die kompromisslos auf Schärfe getrimmt sind, lassen sich nur bedingt mit perfektem Bokeh in Einklang bringen, sagen Optik-Experten – was allerdings gute Kompromisslösungen nicht ausschließt.
Zudem gilt, dass das Bokeh im Vorder- und Hintergrund einer Aufnahme ganz unterschiedlich ausfallen kann. Meist geht ein angenehmes Bokeh im Hintergrund mit einem eher unschönen im Vordergrund einher und umgekehrt.
Bokeh mit Photoshop
Trevi Brunnen, Rom: Das eigentliche Motiv ist hier die historische Hausecke mit Skulpturen und Wappen:
Das Procedere in Photoshop:
- neue Ebene anlegen
- Weichzeichner – Feld-Weichzeichnung
- Einstellungen wie im Screenshot:
Anschließend mit Radiergummi (bei reduzierter Ebenen-Deckkraft) die Schärfe im Vordergrund wiederherstellen. Dann auf eine Ebene reduzieren und Feinkorrekturen mit dem Kopierstempel vornehmen.
Bokeh-Spezialisten
Das Thema „Bokeh“ geistert nicht nur durch Internet-Foren, sondern beschäftigt auch die Kamera- und Objektivhersteller.
Beispiel: das Sony-Teleobjektiv FE 2,8/100 mm STF GM OSS für die Systemkameras der A7/A9-Serie. Dabei steht STF für „Smooth Trans Focus“. Kern der Konstruktion ist ein Apodisationsfilter, ein radialer Grauverlaufsfilter mit zunehmender Dichte zu den Rändern hin – quasi ein umgekehrter Center-Filter.
Der Filter findet sich in direkter Nachbarschaft der Irisblende und glättet die Kontrastkanten der Unschärfekreise, was bei offener Blende zu einem äußerst weichen und gleichmäßigen Bokeh führt. 11 Blendenlamellen ermöglichen Zerstreuungskreise mit perfekter Rundung.
Leider führt der Apodisationsfilter zu einem Verlust an Lichtstärke: Für Offenblende 2,8 gibt Sony den Transmissionswert T/5,6 an.
Das heißt: Die Schärfentiefe entspricht Blende 2,8, die Lichtausbeute Blende 5,6. Beim Abblenden verliert der Apodisationsfilter kontinuierlich an Wirkung; ab Blende 8 hat sich auch der filterbedingte Lichtverlust erledigt.
Ebenfalls mit Apodisations-Filter ausgestattet ist das lichtstarke Fujinon XF 1,2/56 mm R APD für die X-Serie-Kameras von Fujifilm. Der Lichtverlust ist geringer als bei Sony: Für Offenblende 1,2 gilt T/1,7; ab Blende 5,6 sind Blenden- und Transmissionswert identisch.
Vorreiter bei den STF-Objektiven war Minolta mit dem 2,8/135 mm STF von 1996. Fast baugleich ist dieses Objektiv bis heute für das Sony-A-Bajonett erhältlich. Auf Autofokus muss man dabei jedoch verzichten – anders als bei den neueren Bokeh-Spezialisten von Sony und Fujifilm.
Makro-Objektiv 90mm
Das Sony FE 2,8/90 mm Macro G OSS im Bokeh-Check:
STF-Objektiv 100 mm
Fazit
In diesem Artikel hast Du erfahren, wie Du das Wechselspiel von Schärfe und Unschärfe gezielt in Deiner Fotografie einsetzen kannst. Zusätzlich haben wir Dir den Begriff Bokeh erklärt und festgestellt, woran sich dessen Qualität messen lässt.
Autor: Karl Stechl
Weitere Tipps für die Fotopraxis, Tests der aktuellen Kameramodelle und alle Neuheiten und Trends in der Fotobranche erhältst Du im monatlichen ColorFoto-Magazin.
Was meiner Meinung nach bei dem überwiegend guten Artikel nicht korrekt wiedergegeben ist, ist die Beziehung zwischen Brennweite und Schärfentiefe. Mit zunehmender Brennweite nimmt die Schärfentiefe nur scheinbar ab, da durch die räumliche Verdichtung die Zerstreuungskreise schnell an Durchmesser zunehmen. Besser wäre es wohl von scheinbarer Abnahme der Schärfentiefe mit zunehmender Brennweite zu sprechen.
ausgezeichnet und sehr hilfreich.bin am lernen,kann daher keine qualifizierte aussage machen.freu mich hier ohne geldaufwand hilfe für gute fotos zu bekommen.danke !
OCTOPUS
Ein prima Beitrag, doch dieses hier teile ich so nicht:
„Zum Beispiel bei Tierbildern: Mit 500-mm-Tele fotografiert, erscheint der Hintergrund nur noch als farbiges Aquarell ohne erkennbare Konturen. Nichts lenkt mehr vom Motiv ab.“
Welchen Hintergrund meinst Du? Also der in 1-2m , sprich geringem Abstand zum Hauptmotiv, ist sicher kein farbiges Aquarell….! Und je nach gewählter Blende (z.B. 4 oder 8…11….oder…) auch erst nach vielen Metern hinter dem Hauptmotiv! Ich finde, das Gestaltungsspiel mit der Blende sollte auch hier nicht unerwähnt bleiben.
VG
Ike
…danke für den Beitrag. Ein tolles Gestaltungswerkzeug. Besonders beim flinken Schuß wird dies Thema sicher zu oft vernachlässigt. …ob man dies dann aber mit Fotoshop nachholen sollte?? Sicher muß das jeder für sich entscheiden, mir persönlich gehen solche „Nachbearbeitungen“ zu weit. Es ist dann nicht mehr mein Foto …dann kann ich das perfekte Bild auch gleich bei google laden 😉
Große Brennweite und große Blende = geringe Tiefenschärfe und umgekehrt.
Schärfentiefe!
Danke, der Beitrag hat mir das Thema Bokeh realer gemacht.